Mittwoch, 14. Januar 2015

Die zwiefache Übernahme des hebräischen Bibeltextes

Antonio da Fabriano:
Der heilige Hieronymus im Gehäus.
Tempera auf Holz, 1451.
Antwort an Tarquinius auf seine Antwort auf meinen Kommentar zu seinem lesenswerten Blogeintrag Urtextliche Epiphanie.

Die Sache ist sehr komplex; die Überlieferung der Bibel ist leider nicht mein Fachgebiet, auch wenn ich zu einem Problem arbeite, das eng mit der Überlieferung der lateinischen Bibelübersetzungen zusammenhängt. Ich selbst wüßte gern viel besser darüber Bescheid.

Ganz grob kann man wohl sagen, daß es in der nachapostolischen Zeit zwei Übernahmen der Veritas hebraica speziell in den Traditionsschatz der lateinisch-katholischen Kirche gegeben hat: Einmal durch Hieronymus, der nicht nur in seiner Bibelübersetzung oft die hebräische Bibel zur Klärung von interpretationsbedürftigen Stellen heranzieht, sondern vor allem in seinen Bibelkommentaren nicht nur ausführlich den hebräischen Text berücksichtigt, sondern auch rabbinische Interpretationen anführt.

Eine Stelle, die mir dabei besonders ans Herz gewachsen ist, ist Jes. 5,1. Ich habe nämlich mal im Rahmen eines Projektes eine wissenschaftliche Übersetzung des Buches Jesaja der Vulgata angefertigt, die, inschallah, irgendwann auch im Handel erscheinen wird. Hieronymus übersetzt da: Vinea facta est dilecto meo in cornu filio olei. Ein völlig kryptischer Satz, mit dem auch die alten katholischen Übersetzungen, die sich ansonsten strikt an die Vulgata halten, ihre Probleme haben. Sie greifen meist auf die LXX-Version: ἀμπελὼν ἐγενήθη τῷ ἠγαπημένῳ ἐν κέρατι ἐν τόπῳ πίονι, zurück und schreiben von einem fetten Ort. Ein Blick in Hieronymus' Jesajakommentar gibt aber Rat: Der Heilige hat von einem Rabbinen die Interpretation gehört, daß "Sohn des Öls" ein Flurname sei. Der hebräische Text gibt das ebenso her wie die LXX-Interpretation, die die heute verbreitete ist; Hieronymus aber erscheint die rabbinische Tradition plausibler. Also übersetzt er: Ein Weinberg ist meinem Geliebten bereitet worden am Horne "Sohn des Öls". [Das Horn bedeutet hier einen Bergvorsprung.] Ein anderes Beispiel aus Jesaja ist 6,2, wo Hieronymus, wenn ich mich richtig erinnere ebenfalls aufgrund der rabbinischen Auslegung, gegen die LXX übersetzt: Seraphim stabant super illud: sex alae uni, et sex alae alteri; duabus velabant faciem eius, et duabus velabant pedes eius, et duabus volabant. Hier verschleiern also die Seraphim mit den Flügeln Kopf und Füße des Herrn, nicht ihre eigenen. Diese Interpretationen finden sich so in heutigen Bibelübersetzungen aus dem Hebräischen nicht mehr.

Die andere Übernahme des hebräischen Textes ist keine direkte Übernahme durch die römische Kirche, sondern geschah erst in jüngerer Zeit im Nachgang der Reformation, die die Veritas hebraica zum zweitenmal in den Glaubensschatz der lateinischen Christenheit einzuführen gedachte. Die Reformation schloß sich hier wie auch sonst oft dem Motto der Zeit an, dem humanistischen "Ad fontes", dem auch das Sola-scriptura-Prinzip geschuldet ist: dieses Motto ist natürlich verführerisch -- es hat ja auch einiges für sich --, und es macht auch einen sehr wissenschaftlichen Eindruck, was auch der Grund dafür ist, daß auch die katholische Theologie seit dem XIX. Jahrhundert auf den hebräischen Text setzt.

Der hebräische Text wirkt authentischer, so authentisch, daß es einige schon unternommen haben, einen hebräischen Urtext auch für das Neue Testament zu konstruieren, aufgrund dessen sie dann interpretieren. Das ist zum Beispiel bei Mt 26,28 par., dem Kelchwort, so ("pro multis").

Allerdings sehe ich dabei zwei Probleme: 1. ist das Ad-fontes-Prinzip in bezug auf die Hl. Schrift genuin gegen die Kirche gerichtet, sowohl im Speziellen, insofern es sich aus der spezifischen Lebensgeschichte Luthers ergibt, nämlich aus dessen psychologisch sowohl wie auch biographisch zu erklärender Entfremdung von der Kirche. Im allgemeinen entwertet das "Ad fontes" bzw. "Sola scriptura" die Tradition und negiert damit das fortwährende Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche Gottes. Der Rückgriff auf den hebräischen Text als vermeintlich direkt der vorchristlich-jüdischen Tradition entspringend impliziert, daß der Christenheit während der gesamten Kirchengeschichte bis zur (jüdischen) Bombergiana kein authentischer Bibeltext zur Verfügung gestanden hätte. Das ist, wie ich gleich ausführe, eine genuin antichristliche Auffassung.

2. ist die zweite Übernahme des hebräischen Textes auch aus Sicht der heutigen Philologie problematisch: Der Text, den die Reformation übernahm, war der masoretische Text, der 1000 Jahre jünger ist als derjenige, den Christus und die Apostel zur Verfügung hatten. Die Übernahme des masoretischen Textes führt nicht nur zum Kanonproblem, das auf die Zeit Jesu bezogen ein Anachronismus ist; der masoretische Text ist darüber hinaus nicht nur durch Abgleich mit der christlichen Texttradition verbesserungsfähig, also nicht der bestmögliche Text, sondern er ist auch aus seiner Entstehungsgeschichte heraus ein antichristlicher Text.

Um die Zeitenwende galt die LXX den Juden als authentischer Text, davon zeugt nicht nur ihre Entstehungslegende, sondern auch Philo, Josephus und nicht zuletzt die Apostel und Evangelisten nutzten den griechischen Text bedenkenlos. Als sich aber das Christentum auszubreiten begann, kamen vonseiten des Judentums Eifersüchteleien auf: man konnte es nicht haben, daß die Christen den Text benutzten, der den Juden heilig war, um damit ihre falschen Ansichten zu belegen. Folgerichtig kamen bald Vorwürfe auf, die Christen hätten den Bibeltext verfälscht. Die Septuaginta, die von den Heidenchristen und den hellenisierten Judenchristen vorzüglich benutzt wurde, kam in den Ruch, eine verfälschte Christenbibel zu sein.

Der Septuaginta stellte Aquila seine wortwörtlich aus dem Hebräischen übersetzte griechische Bibelversion entgegen, ein Meisterwerk an Pedanterie, das uns hauptsächlich über des Origenes Hexapla fragmentarisch überliefert ist (Origenes wollte ich oben in meiner ersten Antwort neben dem Hieronymus nennen, er ist mir aber entfleucht). Aquila stellt sozusagen ein Übergangsstadium dar: Er stellt den hebräischen Text schon als genuin jüdischen Text über die Septuaginta und spricht ihm die höchste Autorität zu. Er wählt als Mittel seiner Textkonstitution und -verbreitung aber noch die griechische Übersetzung.

Ein weiteres, nun von der griechischen Wissenschaftssprache emanzipiertes Zeugnis für die jüdischen Bemühungen um den Bibeltext ist die Masora, die in vielhunderjähriger Anstrengung den authentischen hebräischen Text sichern und durch Erklärungszeichen vereindeutigen wollte und die mit dem masoretischen Text der ben Ascher, um 1000 in Tiberias vollendet, ihren Abschluß fand.

Eine Vereindeutigung bedeutet immer auch das Ausschließen von Interpretationsvarianten des nichtvereindeutigten Urtextes und eine Engführung auf eine einzige Lesart, ist also auch eine Art von Verfälschung; und eine aus heutiger Sicht unmethodische Textkonstitution kann nicht zu einem authentischeren Text führen, zumal wenn sie von dem Gedanken geleitet ist, imaginierte christliche Verfälschungen aus dem Text zu tilgen.

(Übrigens verfuhr man bei der Konstitution des Bibeltextes noch bis vor hundert Jahren aus heutiger Sicht unmethodisch, indem man die Handschriften nicht wichtete, sondern zählte. So erhielt man einen sogenannten Mehrheitstext, der theoretisch gesehen wertlos ist. Wer weiß, ob man nicht in einigen Jahrzehnten finden wird, daß die heutige Textkritik umethodisch sei?)

Die Masora war also von Anfang an eine Emanzipationsbewegung, die zum Ziel hatte, den christlichen Verfälschern den Text der Hl. Schrift zu entreißen, um einen spezifisch jüdischen, vermeintlich unverfälschten Text zu erhalten. Das macht die ungeprüfte Übernahme in die Verwendung der christlichen Kirche hochproblematisch.

Leider waren die Masoreten noch dazu ebenso selbstbewußt wie die Renaissancehumanisten: im festen Glauben an ihre Arbeit und um den Bibeltext vor dem Wiedereinzug der ausgeschossenen falschen Lesarten zu bewahren, vernichteten sie alle Torarollen, nachdem sie sie benutzt hatten. Nach der endgültigen Konstitution des masoretischen Textes der ben Ascher wurden gar alle sonst noch existierenden Torarollen vernichtet, um den erreichten, vermeintlich perfekten hebräischen Bibeltext zu schützen. So kommt es, daß Zeugen des vormasoretischen hebräischen Bibeltextes heute extrem rar gesät sind. Und so kam es, daß sich die jüdischen Gelehrten aus Eifer für ihren Text von der Handschriftentradition der Vergangenheit abschnitten. Übrig bleibt ein versteinerter Text, mit dem viel angestellt worden ist, was sich aber kaum noch nachverfolgen läßt.

Diesen Text haben wir heute noch; er bildet die Grundlage für fast sämtliche modernen Übersetzungen des Alten Testamentes, glücklicherweise nicht mehr in der Ausschließlichkeit Luthers. Hieronymus dagegen hat noch auf einen zwar aufgrund der Eigenarten der handschriftlichen Überlieferung variantenreichen, aber von willkürlichen Eingriffen verschonten hebräischen Text zurückgreifen können und, was vielleicht noch wichtiger ist, auf die unverfälschte, nichtstandardisierte jüdische Interpretationstradition.

3 Kommentare:

  1. Um so dankbarer bin ich für die längeren Ausführungen - gerade als Vulgatajünger, was wohl in meinen letzten Beiträgen nicht so recht herauskam.

    Aquila wollte ich eigentlich ebenfalls noch erwähnen, aber das hast Du ja zu genüge ausgeführt. Wie sagte Timotheus: "Wenn du ein Zeugnis für Christus vom Hebräischen verschwunden oder im Griechischen verdeckt findest, dann hast du Aquilas Schrift vor dir." :-)

    Noch einmal besonders interessant wird es auch, wenn wir uns die Schriftzitate der frühchristlichen Autoren anschauen, die wir in keinem erhaltenen Text mehr finden. Das soll nun nicht den Wert von Vulgata und LXX vermindern, wie Du schon richtig sagst, wäre das eine Verleugnung des Traditionsprinzips und selbst aus rein wissenschaftlicher Sicht ist deren Qualität unbestreitbar ... aber packend finde ich die Frage schon.

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    1. Achja, so möge er uns doch bitte rechtzeitig über das Erscheinen seiner Isaias-Übersetzung informieren. Ich bin sicher nicht der einzige, der da mal gerne reinschauen würde.

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    2. Das kann ich gern machen; allerdings wird das Buch nach aktueller Vorhersage erst im Jahre 2018(!) herauskommen. Ich tippe eher auf noch später. Auf projekt-vulgata.ch gibt es weitere Informationen zu dem Projekt.

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